Mensch Godehard: Was für ein Leben!

Von Tarek Abu Ajmaieh, HAZ, 6.Mai 202

Mensch Godehard: Was für ein Leben! | Schon zu Lebzeiten war er eine Legende. Kein Hildesheimer Bischof wurde nach seinem Tod europaweit so verehrt. Wer war der Mann, der vor 1000 Jahren das Bistum übernahm – und den dieses jetzt mit einem ganzen Godehardjahr ehrt? Und über den der amtierende Bischof sagt: „Wir können viel von ihm lernen!“ 

Der alte Mann schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt er. „Das kann nicht die richtige Wahl sein.“ 62 Jahre alt ist Godehard inzwischen. Viel älter, als es den meisten seiner Zeitgenossen vergönnt ist. Älter auch als der Kaiser, die Bischöfe, all die anderen mächtigen Männer, deren Blicke sich an jenem Tag im November 1022 in Grone bei Göttingen auf ihn richten. Bischof von Hildesheim soll er werden? Warum nur hat Gott ihm noch einmal diese Prüfung auferlegt? Ist sein Lebenswerk nicht längst vollendet? Godehard schüttelt den Kopf.

März 966: Bei jedem Schritt lösen sich die Stiefel des Mannes mit einem leisen Schmatzen vom Boden des Waldpfades. Es hat getaut in der Nacht, die Erde ist aufgeweicht. Während Ratmund missmutig vorwärts stapft, hüpft sein sechsjähriger Sohn fröhlich über die matschigen Stellen. Dass er schon mit der Morgendämmerung unterwegs sein muss, stört den kleinen Godehard nicht. Er freut sich auf die Schule, wie jeden Tag. Und jeden Tag marschiert er mit seinem Vater die fünfeinhalb Kilometer von der heimischen Hütte in Reichersdorf zum Stift Niederaltaich, wo der Vater als Dienstmann arbeitet, während Godehard in der Stiftsschule lernt. In der Ferne rauscht leise die Donau.

Was für ein Glück, dass der Vater den Job beim Kloster hat! Sonst hätte der Junge wohl keine Chance auf einen der begehrten Plätze in der Schule. So aber darf er jeden Tag mit den Söhnen höherer Familien büffeln. Darf, nicht muss, so sieht er das, und lässt seine Kameraden bald hinter sich. Vor allem fällt auf, wie schnell und genau er schreibt. Früher als üblich lassen die Mönche ihn philosophische und theologische Bücher für die Bibliothek abschreiben. Weil er so herausragt, darf er ins Internat ziehen. Den Vater sieht er trotzdem fast täglich. Und verfolgt, wie der sich durch Fleiß und Lernwillen zum Verwalter hocharbeitet. Ein Vorbild?

Mai 977: Fast schieben sie ihn ein bisschen vor, die Stiftstherren. Schließlich sind sie sehr stolz auf ihn. Und hoffen, dass ein bisschen von einem Glanz auch auf sie abfärbt: „Unser bester Schüler!“ Plötzlich steht Godehard allein vor dem Erzbischof, der aus Salzburg gekommen ist, um das Kloster zu inspizieren. Etwas verlegen schaut er den Würdenträger an. Doch als der ihn anspricht, legt sich die Nervosität schnell.

Der Erzbischof ist beeindruckt – und nimmt Godehard kurzerhand mit. In den nächsten drei Jahren soll er ihn als Schreiber begleiten und dabei einiges über Kirchenpolitik lernen. Gereift kehrt der junge Mann nach drei Jahren zurück nach Niederaltaich, das der Herzog von Bayern inzwischen zu einem Benediktinerkloster gemacht hat.

Benediktiner zu werden, passt zu dem Weltbild, dass sich in den Reisejahren verfestigt hat. Beten, arbeiten und sich bilden – das sind die Aufgaben für Priester und Mönche. Eine Haltung, die Ende des Jahrtausends weniger selbstverständlich ist, als sie klingt. Vielerorts nehmen es Ordensbrüder und Geistliche mit dem Ora et Labora nicht mehr so genau. Godehard passt das gar nicht. Er ist ein Bewahrer – und wird gerade dadurch zum Reformator. Und damit zu einem Fixpunkt für die Kirche auch aus heutiger Sicht – da sie wieder schwer in der Kritik steht und um ihre Haltung dazu ringt.

Mai 995: Was für eine Unverschämtheit! Man sollte diesen Kerl in Ketten legen? Für wen hält sich dieser Godehard? Wütend funkeln Berater und Wachmänner des Herzogs den Prior des Klosters Niederaltaich an. Sie warten nur auf einen Wink ihres Herrn. Doch der Wink kommt nicht. Der Herzog kocht vor Wut. Aber er beherrscht sich. Er ahnt: Godehard hat Recht. Und er kann diesen klugen Mann noch brauchen.

Herzog Heinrich II. von Bayern hat Godehard zum neuen Abt von Niederaltaich ernannt. Es wäre ein enormer Karrieresprung! Doch Godehard lehnt einfach ab. Er will zwar Abt werden, aber nicht so. Den bisherigen Kloster-Chef hat der Herzog auf Basis falscher Anschuldigungen gefeuert. Godehard will die Nachfolge nicht mit dem Makel antreten, davon zu profitieren. Das sagt er dem Herrscher auch ganz deutlich. Die Szene lässt an Luthers Auftritt in Worms gut 500 Jahre später denken: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Denn Godehards Worte können ihn in den Kerker bringen. Mindestens. Doch der Herzog knickt ein. Klärt die Sache mit dem Vorgänger und kommt schließlich fast als Bittsteller zu Godehard, um ihm erneut den Posten anzubieten. Diesmal nimmt der inzwischen 36-Jährige an. Und macht aus Niederaltaich ein Muster klösterlichen Lebens.

August 1005: Da kommt er also wirklich! Missmutig blicken die Bad Hersfelder Mönche nach Süden. Ja, das muss er sein, dieser Godehard. Hager, hochgewachsen, mit einem einfachen Wanderstab in der Hand, marschiert der neue Abt auf ihr Kloster zu. Ihr Kloster, so sehen die Mönche das. Sie haben hier gut gelebt in den letzten Jahren. Weniger im Kloster, aber von dessen Erträgen. In netten Häusern. Mit Frauen und Kindern, mit Pferden und Schmuck. Und jetzt halst ihnen der Kaiser diesen asketischen Bayern auf. Der will, dass sie alle wieder im Kloster zusammenleben. Und arbeiten. Und lesen. 50 Mönche packen ihre Sachen.

Godehard lässt sie ziehen. Er wendet sich den Gebliebenen zu. Straft nicht, schimpft nicht, sondern redet. Erklärt. Warum er die Rückkehr zu den alten Tugenden fordert. Dass darin der Dienst an Gott und den Menschen besteht. Dass sie diesen Rahmen akzeptieren müssen, aber auch mitentscheiden dürfen über alles andere. Führung im Team. Ein moderner Ansatz, heute noch.

Und der Krisenmanager lebt vor, was er verlangt. Steht früh auf zum Morgengebet, arbeitet mit auf den Feldern, liest am Abend bei Kerzenschein seine Cicero-Bände. Und tatsächlich: So nach und nach kehren fast alle Geflohenen zurück. Und dürfen bleiben. „Verabscheue die Taten, aber nie die Menschen“, sagt Godehard einmal. Auch das so eine zeitlose Haltung. Nach sieben Jahren darf er zurück nach Bayern.

November 1022: Denken die beiden Männer an die Szene von vor 30 Jahren? Der Kaiser, der Godehard zum Bischof von Hildesheim machen will, ist kein anderer als jener Herzog von Bayern, der ihn einst zum Abt ernennen wollte. Auch er steht unter Druck. Die Nachricht vom Tod Bischof Bernwards hat sie alle geschockt. Der Kaiser will gar nicht erst das übliche politische Gerangel aufkommen lassen. Und er weiß: Godehard kann das. Er lässt sich nicht davon abbringen. Schließlich lenkt Godehard ein.

Juni 1029: „Hier, trinkt erstmal etwas!“ Die beiden Maurer drehen sich überrascht um. Da steht der Bischof mit zwei großen Bechern Wasser in der Hand. „Bier gab’s leider nicht“, setzt Godehard hinzu. Dann fragt er, wie es vorangeht mit dem neuen Westwerk. Bald ist das Trio ins Plaudern vertieft. Und die beiden Maurer haben schnell vergessen, wer da bei ihnen steht. Ebenso, wie sie aufgehört haben, sich über seinen seltsamen Dialekt zu wundern. Längst ist er „ihr“ Bischof. Und sie lieben ihn. Nicht nur wegen des Wassers.

Was waren das für Fußstapfen sieben Jahre zuvor! Der verstorbene Bernward hatte gewaltige Spuren hinterlassen. Die Stadt vom Muff der Provinzialität befreit, herausragende Gebäude und Kunstwerke geschaffen. Ein Graf von Geburt, der mit dem Selbstverständnis des Adels regiert, ein Visionär und ein Macher, dessen Spuren in der Stadt noch 1000 Jahre nach seinem Tod reichhaltig sein werden.

Godehard ist kein Graf und kein Baumeister. Eher ein Dorfpastor, der durch Intelligenz und Fleiß weit aufgestiegen ist. Der sich unters Volk mischt, ohne Scheu alles und jeden anspricht. Der ständig unterwegs ist zwischen Bad Gandersheim, Gifhorn und Braunschweig. 30 Kirchen bauen lässt, oft selbst in den Dörfern auf die Kanzel steigt. Bete, arbeite und lerne!

Und quäle dich, könnte man anfügen, denn ob zu Pferd oder zu Fuß – ein Vergnügen ist selbst eine Tour von wenigen Kilometern zu jener Zeit nicht. Schon gar nicht Mitte 70. Und doch kann er auch ein knallharter Politiker sein, wenn es darauf ankommt. So entscheidet er den seit gut 40 Jahren andauernden Streit um Bad Gandersheim gegen das mächtige Erzbistum Mainz für Hildesheim – mit List und Intrige, aber auch mit unwiderlegbaren juristischen Argumenten.

Dezember 1037: Einsam schleppt sich der alte Mann durch die Gänge der Klosterkirche in Wrisbergholzen. Die Kälte verstärkt die Schmerzen in den Beinen. Schwer lehnt sich der Greis auf eine Mauer. Dieses Werk ist nicht gelungen. Godehard wollte das Michaeliskloster hierher verlegen, die Mönche sollten fern der Ablenkungen der Großstadt ihr Leben in seinem Sinne führen. Konzentration auf das Wesentliche.

Doch der Widerstand war zu groß. Nun sind sie alle wieder in Hildesheim. Und Godehard feiert sein letztes Weihnachten ziemlich einsam, begleitet von wenigen Untergebenen. Unzufrieden wirkt er dennoch nicht, trotz seines sichtbaren Leidens findet er immer noch Geist und Kraft für ein paar ironische Bemerkungen. Etwa über die Pilger, denen es in den von ihm geschaffenen Herbergen in Hildesheim mitunter so gut gefällt, dass sie sich dort drei Wochen lang versorgen lassen statt der üblichen zwei oder drei Tage: „Wandert nun weiter, damit ihr das Laufen nicht verlernt!“

Herbergen und Einrichtungen der Krankenpflege, für die damalige Zeit hochmodern, hat er mehrfach gegründet. Kirchliche Krankenhäuser und soziale Einrichtungen sind heute selbstverständlich. Gerade auch in Hildesheim.

Mai 1038: Er hat es ihnen angekündigt. Morgen wird er sterben. So richtig vorstellen kann sich das keiner, aber hat er sie je belogen? Vor zwei Wochen war er noch einmal in Adenstedt, um zu schauen, wie weit der Bau der Kirche dort vorangeschritten ist. Da wirkte er schwach, aber geistig ganz klar, genau wie jetzt. Am 4. Mai lässt sich der 78-Jährige auf den Moritzberg bringen, in sein Stift St. Mauritius. Hunderte, vielleicht Tausende folgen. Lauschen ergriffen, wie der Bischof Stunde um Stunde Psalmen betet. Schließlich wird die Stimme leiser, irgendwann unhörbar. „Ich steige auf zu meinem Vater“, haucht der Greis. Am nächsten Morgen schließt er die Augen für immer.

Schon bald pilgern die Menschen zu seinem Grab. Wenige Jahrzehnte nach seinem Tod wird er heilig gesprochen. Was für ein Leben!

Ein Mann, der seine größte Aufgabe in einem Alter bekam, in dem die meisten Menschen heute noch in Rente gehen. Ein Mann, der gerade dadurch zum Reformator wurde, dass er konservativ war. Ein Mann, den seine Mitmenschen zu überzeugen und im heutigen Sinne „mitzunehmen“ wusste. Der vorlebte, was er von anderen verlangte. Der sich nicht scheute, Autoritäten die Stirn zu bieten. Ein in mancherlei Hinsicht auch aus heutiger Sicht modern wirkender Mensch.

Und ein Mann, wie ihn die katholische Kirche wohl auch heute gut gebrauchen könnte.